Liebe Leserin, Lieber Leser,
nachdem wir uns in den letzten beiden Ausgaben mit dem Thema „Beziehungen“ stärker auseinandergesetzt haben, so möchte ich heute mit Ihnen die Grundlage schaffen, für die „Frage der Woche“ in der nächsten Woche, in welcher wir das Thema „Beziehungen“ erweitern und von der reinen Partnerschaft ausweiten auf die Beziehung zu den Menschen, die uns umgeben. Doch dafür sind einige grundlegende Gedanken wichtig, die den Übergang zwischen den letzten Ausgaben und der nächsten Ausgabe abrunden.
Ihr Leben
Wahrscheinlich werden Sie mit mir darin übereinstimmen, dass es ein wichtiger Sinn des Lebens ist, die Welt ein bisschen besser zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben. Dafür und für andere Aufgaben, haben wir durch die sozialen Revolutionen der letzten Jahrzehnte eine ungeahnte Fülle von neuen Freiheiten erhalten. Für einige von uns ist diese Freiheit aufregend, für andere bedeutet sie eine schreckliche Unsicherheit. Ich glaube, die großen Verlierer des neuen Angebots an unglaublicher Freiheit sind besonders die, die ihre Freiheit missbrauchen, um Verantwortung und Pflichtgefühl abzulehnen. Und so ist unsere Welt durch die Freiheit nicht in jeder Hinsicht besser geworden. Viel Freiheit bedeutet nämlich immer auch große Verantwortung aus meiner Sicht und nicht jeder Mensch, der sich in den vielen neuen Freiheiten wiederfindet, ist auch in der Lage mit der gewachsenen Verantwortung umzugehen. Dies spiegelt sich darin wieder, dass es für viele nicht leichter geworden zu ist, ihren eigenen Weg zu finden. Max Frisch sagte:
„Wir können tun, was wir wollen, und die einzige Frage ist jetzt: Was wollen wir? Viele Menschen haben weder das Wissen, noch die Initiative oder den Willen, um diese Frage zu beantworten.“
Der Philosoph Immanuel Kant war einer der entscheidenden Vordenker unserer heutigen Systeme. Wir sollten nicht vergessen, dass er immer wieder auf eine bestimmte Verbindung hingewiesen hat:
auf die Balance zwischen dem, was wir erwarten können (Freiheit, unseren Lebenssinn zu wählen)
und dem, was von uns erwartet werden kann (Verantwortung).
Diese von Kant postulierte Balance ist meines Erachtens insbesondere durch Siegmund Freud in Gefahr geraten, vergessen zu werden. Im Wesentlichen behauptet Freud, dass wir heute nun einmal so sind, wie wir geworden sind. Und dass wir an diesem Umstand nur noch sehr wenig ändern können. Diese Denkweise heißt übersetzt für unser Leben:
„Wenn Du kein Gefühl der Verantwortung für andere und für die Gesellschaft empfindest, so musst Du Dich nicht schuldig fühlen. Entspanne Dich, denn Du bist nun einmal so wie Du bist. Du hast keine andere Wahl.“
Vielleicht ist Ihnen diese Sichtweise auch schon einmal begegnet. Häufig erfahren Sie diese Sichtweise bei Menschen, die beschließen re-aktiv zu sein und sich zurückziehen auf die Aussage: „Ich bin nun mal so wie ich bin.“ und die damit Ihr Verhalten und Ihre Handlungen (und damit auch Ihre Verantwortung) auf Ihre Gene schieben (und sich somit der Verantwortung entziehen möchten).
Die Gefahr des Determinismus
Ich bin weder berufen noch qualifiziert, über Freuds Lehre im Einzelnen zu diskutieren. Wohl aber sei mir eine Anmerkung erlaubt: ich halte diesen Determinismus für eine Gefahr. Selbst wenn er wahr sein sollte, glaube ich nicht, dass wir uns erlauben können ihn zu glauben.
Diese Denkweise kann zu leicht fehl interpretiert werden und zu einem Freifahrschein für eine gefährliche Form von Egoismus werden, und damit zu einem Rezept für eine unmoralische Gesellschaft. In diesem Punkt folge ich lieber Jean Jacques Rousseau, der einmal sagte:
„Es gibt insbesondere eine Charakteristik, die Menschen voneinander unterscheidet: und das ist die Fähigkeit zur Selbstverbesserung“.
Ich würde das Leben für ziemlich unbedeutend halten, wenn wir nicht die Fähigkeit hätten, auf unsere eigene Entwicklung und die anderer Einfluss zu nehmen. Ich will auch einfach glauben, dass jeder Mensch die Welt ein wenig verändern kann, zumindest im Kleinen.
Meine Erfahrung
In den Jahren nach meinem Schulabschluss habe ich die Zeit damit verbracht, jemand anders zu sein, als ich wirklich bin. Ich wollte so Vieles werden, Großes bewegen und habe mich in so vielen unterschiedlichen Bereichen engagiert… Es wurde eigentlich immer sehr schnell deutlich, dass ich zwar über eine gewisse Fähigkeit verfügte, dass es aber niemals reichen würde, um in einem dieser Bereiche wirklich erfolgreich und vor allen Dingen glücklich zu werden. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, es weiter zu probieren. So war die Enttäuschung vorprogrammiert. Das Problem dabei:
indem ich versuchte jemand anders zu werden, habe ich es versäumt mich auf die Person zu konzentrieren, die ich wirklich sein kann.
In der Rückschau habe ich mich eigentlich nur vor mir selber versteckt. Ich war ein Sklave des selbstunterworfenen Systems, statt ein Meister meines Lebens zu werden.
Lernen aus der Erfahrung
Nun ist es aus der heutigen Sicht leicht, diese Rückschau vorzunehmen. Aber in der Situation selber werden die Dinge nicht so klar. Wir müssen wahrscheinlich zunächst einmal ins kalte Wasser springen, bevor wir schwimmen lernen. Vielleicht musste ich gewisse Dinge einfach ausprobieren…aber das müssen wir nicht ein Leben lang tun. Denn wir haben die Fähigkeit zu lernen. Ab einem gewissen Alter verfügen wir eben über die Erfahrung zurückliegender Jahre. Wir können nicht immer weiter so tun, als seien wir gerade 20. Das Leben wird immer mehr zu einer Chance, das Beste aus uns selbst zu machen. Die Chance liegt darin, dass wir immer mehr erkennen, wer wir wirklich sind. Und so können wir der werden:
Der wir sein könnten
Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden die Person treffen, die Sie einmal sein könnten. Wie ähnlich wäre Ihnen dieser Mensch? Welche Unterschiede gäbe es? Welche Weichen können Sie heute anders stellen, um noch mehr zu diesem Menschen zu werden? Auch wenn ich in meinen Artikeln und Vorträgen religiöse Passagen vermeide weil ich glaube das jeder Mensch seinen eigenen religiösen Weg finden sollte, so hat mich eine Stelle aus der Bibel fasziniert. Es ist ein Text aus der Offenbarung: „…wer überwindet…dem will ich geben einen weißen Stein und auf dem Stein wird ein neuer Name geschrieben werden …“. Dies habe ich für mich wie folgt interpretiert:
Wenn wir die Versuchung überwinden, jemand anderes zu sein, als wir wirklich sind, wenn wir nicht in die Falle tappen, in den Augen anderer das sein zu wollen was diese Menschen von uns erwarten wollen, dann können wir unser wirkliches Selbst entdecken.
Der weiße Stein
Das Leben ist eine Suche nach dem weißen Stein. Der neue Name steht für unsere wirkliche (neue) Identität. Rachel Lindsey sagte:
„Die Tragödie ist nicht der Tod. Die Tragödie ist zu sterben, mit undefinierten Verpflichtungen,
mit unerklärten Überzeugungen und mit unerfüllten Leistungen für andere“.
Diese drei Begriffe sind für mich der Inbegriff des weißen Steins:
1. Verpflichtungen eingehen
2. Überzeugungen festlegen und vertreten
3. Leistungen für andere erbringen.
All das setzt voraus, dass wir uns selber kennen, unsere Talente, Werte und Aufgaben. Die Eingeborenen in Australien sagen:
„Du musst die Veränderung werden, die Du in der Welt sehen möchtest“.
Ich glaube, in diesem Sinn, gibt es keine Grenzen für unser persönliches Wachstum – während wir nach unserem weißen Stein suchen.
Der Alltag
Solche und ähnliche Gedanken, tauchen immer wieder von Zeit zu Zeit an der Oberfläche unseres Alltages auf. Zu oft werden sie unterdrückt – durch so genannte Notwendigkeiten. Kann es sein, dass wir damit auch gleichzeitig unser wahres Glück unterdrücken? Viele Firmen sind dazu übergegangen, ihre Mission Statements (das, wofür die Firma steht) von Beratern schreiben zu lassen. Meines Erachtens kann das auf Dauer nicht funktionieren. Es gibt Dinge, die ein Unternehmer/Unternehmen selber tun muss.
Und es gibt auch Dinge, die ein Mensch selber tun muss. So können wir auch nicht andere fragen, wie unser weißer Stein aussehen könnte. Das wäre ein bisschen so, als würden wir einen Psychoanalytiker darum bitten, uns zu sagen, wer wir sind.
Nein, wir sollten die wesentlichen Fragen des Lebens weder unterdrücken, noch sie durch andere beantworten lassen. Überhaupt sollten wir bei der Suche nach dem weißen Stein (wie auch in unserem Leben sonst) nicht so sehr auf andere schauen. Je mehr wir auf andere schauen, desto mehr neigen wir dazu uns zu vergleichen. Doch je mehr wir uns vergleichen, desto leichter beginnen wir damit uns selbst zu leugnen.
Schließlich vergleichen Menschen auch ihr ‚Sein’ mit dem anderer. Dabei geht es im Leben niemals um den Vergleich mit anderen, sondern immer nur um den Vergleich mit dem Menschen, der wir sein könnten. Das Bild eines Marathons erscheint mir hier als die geeignete Metapher: Jeder, der den Lauf vollendet, ist ein Gewinner. Die Teilnehmer eines Marathons laufen immer nur gegen sich selbst. Sie verbessern den Standard, den sie sich selber gesetzt haben.
Wenn Sie etwas Zeit haben, dann denken Sie doch einmal in Ruhe über die folgenden Fragen nach:
- Lebe ich wirklich wahre Freiheit? (oder versuche ich jemand zu sein, der ich nicht wirklich bin; versuche ich es anderen Recht zu machen – was niemals wirklich gelingen kann?)
- Ist mir bewusst, dass ich mich jederzeit gut fühlen kann? Dass Probleme ihre Vorteile haben, dass Schwächephasen nur überfällige Ruhephasen sind?
- Erfahre ich das Leben als Spiel? Ein Spiel, in dem ich mich selbst nicht zu ernst nehme. In dem ich nicht Respekt und Gerechtigkeit von anderen einfordere und so mein Wohlbefinden von anderen abhängig mache?
- Gebe ich bei jeder Aufgabe mein Bestes (nur so kann ich wirklich Spaß haben)? Denke ich periodisch über Paretos 20:80 Regel nach?
- Wie oft verlasse ich meine Komfortzone wirklich?
- Wie steht es um meine Lebenslügen? Ist mir bewusst, dass mich alles meinen Zielen entweder näher bringt oder mich von ihnen entfernt? Welche Konsequenzen ziehe ich daraus?
- Muss ich wirklich alles selber tun, was ich zur Zeit selber erledige? Was habe ich zum letzten Mal selber gemacht?
- Habe ich genug Zeit eingeplant: für Pausen, Urlaube, Magic Moments, Menschen die ich liebe, die Suche nach dem weißen Stein, Projekte die nicht dringend aber wichtig sind, um Träume zu erfüllen, um einfach einmal nichts zu tun (ohne Schuldgefühle)?
- Inspirieren mich die Menschen, mit denen ich mich regelmäßig treffe? Geben sie mir Energie oder sind es eher Energiesauger? Wie kann ich mich noch mehr mit Personen umgeben, die mich inspirieren und von denen ich lernen kann?
- Wie anfällig bin ich für Kritik: wie sehr gebe ich anderen Menschen Macht über mein Leben?
- Wie sehr erlaube ich es anderen Menschen mir in meine Art mein Leben zu leben hineinzureden? Gestatte ich es anderen Menschen gar so viel Einfluss auf mich zu haben, dass ich Dinge/Beziehungen, die mir wichtig sind aufgebe/verrate, nur um es diesen anderen Menschen Recht zu machen oder dazu zu gehören?
- Nehme ich mir die Freiheit für gedankliche Planspiele: ist mir bewusst, dass ich nicht notgedrungen mit einer einzigen Tätigkeit verwachsen bin? Wann habe ich das letzte Mal in Gedanken ein völlig neues Leben entworfen?
- Wie hilfreich bin ich für andere? Verbreite ich gute Laune? Stärke ich andere? Schenke ich Freude?
- Ist mir bewusst, dass ich bei allen hehren Vorsätzen und bei der Suche nach dem weißen Stein trotzdem ohne Schuldgefühle auch das zehnfache verdienen dürfte und könnte? Bin ich innovativ genug und flexibel genug, um Wege anzudenken, die mein Einkommen verzehnfachen würden? Glaube ich daran, in meinem Leben auch beruflich einen Quantensprung vollziehen zu können?
- Wie sieht es mit meinem Persönlichkeitswachstum wirklich aus? Lese ich genug Bücher, führe ich Journale, treffe ich mich periodisch mit weisen Menschen? (Oder bestimmt die Fernseh-Fernbedienung und das Fernsehprogramm meine Zeit- und Lebenseinteilung?)
- Liebe ich was ich tue? Kann ich jeden Tag in meinem Job mindestens bis zu 80 % das einbringen, was ich am besten kann?
- Verhalte ich mich weise? Steige ich in Negativität ein? Bin ich in der Lage, Kritik mit Lob zu beantworten? Behandle ich andere Menschen respektvoll, weil ich in ihnen die Person sehe, die sie sein könnten?
Sicherlich könnten wir hier noch eine Menge weiterer Fragenkomplexe behandeln. Bei mir sind es zur Zeit 63 Fragen, die ich mir – je nach Bedarf – periodisch stelle. Diese Fragen sind für mich Lehrmeister, Coach, kritischer Beobachter, liebevoller Ermahner und Helfer. Vielleicht wollen Sie sie auch in diesem Sinne verstehen und nutzen.
Wirklich Unmöglich ?
Alle Gedanken, die wir zusammen in diese „Frage der Woche“ durchdenken, können in einem Wort ihr Ende finden: dem Wort ‚unmöglich’. Jede gedankliche Freiheit findet in diesem Wort ein jähes Ende. Jeder Fortschritt wird sofort begraben. Jede Chance für Wachstum sofort erstickt. Jedes Glück und jede Sehnsucht erlischen, wenn wir diesem Wort Macht über unser Leben geben.
Mohammed Ali hat immer wieder gesagt: „Unmöglich ist nichts“. Und diesen Slogan hat sich seine Tochter zu eigen gemacht. Sie wollte Boxerin werden, obwohl es dafür keinen wirklichen Markt gab. Gegen den Rat ihres Vaters. Gegen die Meinung ihrer Freunde. Ich möchte Ihnen wiedergeben, was Mohammed Alis Tochter Laila zu dem Wort „unmöglich“ sagt. Nicht weil ich Frauenboxen das Wort reden möchte, sondern weil ich glaube, dass kaum jemand das Wort „unmöglich“ so gut aufgearbeitet hat:
„Unmöglich ist ein großes Wort, mit dem kleine Menschen um sich werfen, die es einfacher finden, in der Welt zu leben, die ihnen gegeben worden ist, statt ihre Macht zu erforschen und zu nutzen, diese zu verändern.
Unmöglich ist keine Tatsache, es ist eine Meinung. Unmöglich ist keine Erklärung, es ist eine Herausforderung. Unmöglich ist Möglichkeit. Unmöglich ist temporär. Unmöglich ist nichts.“
In diesem Sinne: Alles in Ihrem Leben ist möglich, so lange Sie es nicht für unmöglich halten. Deshalb schließe ich die heutige Ausgabe mit der „Frage der Woche“:
Leben Sie Ihr Leben oder das der Anderen?
Ich wünsche Ihnen viel Erfüllung, Glück und Frieden bei der Suche nach Ihrem weißen Stein.
Herzlichst,
Ihr Nuno F. Assis